Ein Dehnungsprogramm kann viel leisten und effektiv sein, wenn es gewisse physiologische und neurophysiologische Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Körpers berücksichtigt und individuell anpasst.

Dehnreflex

Das erste Prinzip handelt von dem Dehnungsreflex in den Muskelspindeln. Diese speziellen Rezeptoren befinden sich in arbeitenden Muskeln und reagieren sowohl auf Muskellängenveränderungen wie auch auf die Geschwindigkeit solcher Veränderungen, die beim Dehnen entstehen. Wenn eine Muskelverlängerung als zu schnell oder als zu weit empfunden wird, senden sensible Nerven in den Spindeln über das Rückenmark Informationen direkt an die motorischen Nerven des Muskels mit dem Befehl, sich zusammenzuziehen, um den vorherigen Zustand des Muskels wiederherzustellen. Das ist selbstverständlich eine Vereinfachung des Prozesses. Es gibt auch andere Rezeptoren im Körper, die auf bestimmte Reize oder Zustände reagieren, wie z. B. die Golgi-Rezeptoren, die die Dehnungsspannung in den Muskel-Sehnen-Einheiten, in den Bändern und Gelenkkapseln messen (Freiwald, S. 145). Trotzdem sind die Muskelspindeln „Rezeptoren mit dem höchsten Komplexitätsgrad“ (Freiwald, S. 150) und „…sind für die Funktionen der Muskel-Gelenkbeziehungen von entscheidender Bedeutung“ (Freiwald, S. 151). Auch wenn viele Faktoren die Beweglichkeit eines Gelenkes und den gesamten Bewegungsfreiraum eines Menschen beeinflussen können (Freiwald, S. 31-35), scheinen die Muskelspindeln doch eine wichtige Rolle bei Muskellängenveränderungen zu spielen. Aus diesem Grund werden die AIS-Dehnübungen so praktiziert, dass der Dehnungsreflex möglichst nicht ausgelöst wird. Eine Aktivierung des Dehnungsreflexes würde nämlich dazu führen, dass die Muskulatur, die wir dehnen wollen, sowohl unter einer Dehnungs- wie auch einer Kontraktionsspannung stehen würde. Das vermeiden wir, indem wir die Dehnung nur bis zur ersten Anspannung durchführen.

Das Sherrington-Gesetz

Die aktiven Muskelbewegungen bei AIS-Dehnübungen berücksichtigen ein anderes neurophysiologisches Prinzip: das Sherrington-Gesetz – auch reziproke Hemmung genannt. Im Grunde lautet das Prinzip wie folgt: Wenn ein Muskel – der Agonist – ein Nervsignal erhält, sich zusammenzuziehen, muss sein Gegenspieler – der Antagonist – in Folge eines Nervenimpulses gehemmt werden. Statt von einer Hemmung zu sprechen, die in der Literatur strittig diskutiert wird, können wir einfachhalber von einem Wechselspiel zwischen einem aktiven Agonisten und seinem Antagonisten reden, dessen Muskeltonus und Dehnungsreflex neu ausgerichtet oder „recalibrated“[1] wird, damit er gedehnt werden kann.[2] In der praktischen Anwendung handelt es sich nicht um einen Muskel, sondern um eine Gruppe von Muskeln, die eine bestimmte Bewegung oder Bewegungen macht, damit die entgegengesetzte Muskulatur gedehnt werden kann. Auch bei anderen Dehnungstechniken ist dieses Prinzip bekannt (z. B. AC – Agonist Contract). Das AIS-System unterscheidet sich von anderen Methoden in folgenden Punkten: Es handelt sich nicht um eine isometrische Kontraktion, das Zusammenziehen des Agonisten kann minimal sein und die Bewegungen werden mehrmals wiederholt – in der Regel zwei Sätze 8-10 Mal. Je nach dem gewünschten Ziel oder dem therapeutischen Zweck können die Wiederholungen mehrere oder weniger Sätze und/oder Wiederholungen umfassen.

Als Nächstes: AIS Methode: Unterschiede und Vorteile

Referenzen:

Freiwald, J. Optimales Dehnen, 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Spitta GmbH, 2020.

Latash, ML. Evolution of Motor Control: From Reflexes and Motor Programs to the Equilibrium-Point Hypothesis. J Hum Kinet. 2008;19(19):3-24. doi:10.2478/v10078-008-0001-2

Stuart DG, Pierce PA, Callister RJ, Brichta AM, McDonagh JC. Sir Charles S. Sherrington : Humanist, mentor, and movement neuroscientist. In: Latash ML, Zatsiorsky VM, editors. Classics in Movement Science. Human Kinetics; Urbana, IL: 2001. pp. 317–374

Blog: PNF Basic Principle: The Stretch Reflex and the Myth of Reciprocal “Inhibition”. https://neuropedicswellness.com/blog-for-professionals-1/stretch-reflex  


[1] PNF Basic Principle: The Stretch Reflex and The Myth of Reciprocal “Inhibition” — NEUROPEDICS REHAB & MOVEMENT WELLNESS CONSULTING COMPANY (neuropedicswellness.com)

[2] Latash: “Control of movements, according to Sherrington, was performed by changing parameters of reflexes, in particular of the tonic stretch reflex”